Die mittlerweile verstorbene Hannerle Mensen hat die Bombardierung Hildesheims am 22. März 1945 als 8-Jährige miterlebt. Im Rahmen unserer Videoinstallation „Hildesheim: Blüte – Zerstörung – Wiederaufbau“ erreichte uns über ihre Stieftochter ein bewegender Bericht mit ganz persönlichen Erinnerungen auch an die Zeit davor und danach.
Unsere Videoinstallation „Hildesheim: Blüte – Zerstörung – Wiederaufbau“ beruht auf den Zeitzeugenberichten der Hildesheimerin Katharina Scheide und ihres Sohnes Karl, die beide die Zerstörung Hildesheims am 22. März 1945 miterlebt haben. Seit der Eröffnung der Installation erreicht uns immer wieder Feedback von weiteren Zeutzeugen oder deren Angehörigen, die mit uns ihre Geschichten teilen möchten.
Nachfolgend ein Text, der für sich spricht und keiner weiteren Erklärung bedarf. Es sind die Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus.
Hannerle Mensen hat als 8-Jährige in Hildesheim die Bombardierungen miterlebt – und überlebt, weil ihre Oma nicht mit ihr in den dann zerstörten Bunker „Am Liebesgrund“ gegangen ist.
Hinweis: Der Text enthält zum Teil drastische Schilderungen von Kriegserlebnissen und -folgen. Bitte entscheiden Sie, ob Sie ihn lesen möchten.
Dies ist Hannerles Geschichte:
„Eigentlich dürfte ich gar nicht mehr existieren, denn mein Vater war Jude und meine Eltern durften nach den Nazi-Gesetzen von 1935 nicht heiraten. Also wurde ich am 8. September 1936 in Berlin „unehelich“ geboren. Der Name meines Vaters wurde totgeschwiegen, sonst wären meine Mutter und ich auch im KZ in Auschwitz umgekommen. Wie mein Vater, den die Nazis in Prag, wo er sich sicherer fühlte, geschnappt hatten.
Übrigens wurde mein Kopf als Baby vermessen und als „arisch“ befunden! So kam ich schon mit zwei Jahren zu meiner Oma nach Hildesheim, weil meine Mutter arbeiten musste, damals in der Hauptverwaltung der AEG. So war ich schon damals viel auf Reisen: Berlin – Hildesheim – Berlin.
1942 hat mich der Schularzt ein Jahr zurückgestellt, weil ich zu zart und wohl etwas schwächlich war. 1943 war dann mit sieben Jahren meine Einschulung in der Sybelstraße in Berlin-Wilmersdorf. (…)
Ich sehe noch meine Tante Martha, wie sie mein Monogramm in alle Taschentücher und Kleidung nähte, denn alle Berliner Kinder sollten evakuiert werden wegen der vielen Bombenangriffe auf Berlin. So wurde ich sofort nach der Einschulung mit einem Kindertransport nach Ostpreußen evakuiert. Das Ziel war Heinrichswalde noch hinter Tilsit. Das war für mich ganz schlimm – zum ersten Mal so weit von zu Hause fort und dann noch ohne Mutter und Oma. Im Zug bekam ich vor Aufregung und Weinen am ganzen Körper rote Flecken. Nachts blieb der Zug stehen, weil die Feinde kein Licht sehen durften. Es war stockfinster und beängstigend. So wurde ich in ein Krankenabteil verlegt, denn sie dachten, ich hätte eventuell eine ansteckende Krankheit wie Scharlach oder so.
Endlich nach langer Fahrt erreichten wir unser Ziel. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich mit einer Taschenlampe von Kopf bis Fuß abgeleuchtet wurde. Wir kamen in einen großen Saal, die Wände waren mit riesigen roten Hakenkreuzfahnen geschmückt. Plötzlich kam ein Mann und nahm mich mit – wohin?
Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, so nahm er mich unter den Arm, so dass ich nach hinten strampeln konnte. Ich kam zu einem kinderlosen Ehepaar – Onkel Paul und Tante Amanda. Sie erwartete uns in einem schwarzen Spitzenkleid mit weinrotem Unterrock. Das war damals wohl modern, denn meine Mutter hatte auch so ein schönes Kleid. Ich wurde sehr verwöhnt und es gab noch alles zu essen. Dort fühlte ich mich wohl.
Eines Tages (…) in der Mitte des Ortes auf einer Kreuzung, stand plötzlich meine Mutter. Da gab es kein Halten mehr! Sie hat mich heimlich zurückgeholt! Es gab einen tränenreichen Abschied, denn die beiden hätten mich gern behalten und dachten: die in Berlin kommen sowieso alle um in den vielen Bombennächten!
So kam ich wieder zu meiner Oma nach Hildesheim, weil ich in Berlin nicht bleiben durfte. Ich hatte keine Lebensmittelmarken bekommen. An die Marken kann ich mich noch gut erinnern: rote Marken für Brot, blaue für Fleisch, gelbe für Fett, braune für Tabak usw.
In Hildesheim ging ich dann weiter zur Schule bis Kriegsende. Im Sommer gingen meine Oma und ich jeden Tag zum Friedhof mit einer großen Gießkanne. Dort trafen wir Onkel Max, den Verlobten meiner Tante, hinter Opas Grabstein. Meine Frage: Oma, wohnt Onkel Max auf dem Friedhof? Eines Tages sah meine Oma gerade, wie Onkel Max auf einem Lastwagen stehend abtransportiert wurde. Sie durfte nicht mal winken!
Ich weiß nicht mehr das Jahr, als wir Gasmasken abholen mussten. Es war im Brühl, der im letzten Angriff total ausgelöscht wurde. Unterwegs überraschte uns Voralarm – alle rannten in den Bunker am Liebesgrund, da wollte ich auch hinein, aber Oma wollte partout nach Hause laufen. Wir schlichen dicht an den Häusern entlang, man durfte bei Fliegeralarm nicht auf der Straße sein.
Da tönten sie Sirenen Hauptalarm. Als wir ankamen, fielen uns schon Glassplitter von den Treppenhausfenstern entgegen. In unsere Stube im 4. Stock fiel eine Brandbombe, es wurde gelöscht. Mein Puppenwagen samt Puppe flog brennend aus dem Fenster.
Der Puppenwagen wurde durch einen Pappkarton mit Bindfaden zum Ziehen ersetzt. Das Loch im Fußboden wurde mit Stein gefüllt. Später hörten wir, dass alle Menschen in den Bunkern im Liebesgrund umgekommen sind.
Den letzten großen Angriff am 22. März 1945 erlebte ich mit. Die Stadt wurde über 90 % zerstört. Den süßlichen Geruch der Leichen rieche ich noch. Die Leichen lagen bergeweise auf Karren auf dem Friedhof und wurden in Massengräbern begraben. Der Himmel war glutrot, als Hildesheim in Flammen stand. Aber die Wurzeln des berühmten 1000-jährigen Rosenstocks haben überlebt – ein Wunder!
Am Ende des Krieges kamen Tiefflieger, da versteckten wir uns hinter Opas Grabstein. Sie warfen Silberstreifen ab. Wenn alles wieder ruhig war, sammelte ich „Lametta“ zwischen den Gräbern. Da kam meine Mutter – wie ein Engel in der Not, um zu sehen, ob wir noch lebten. „Ja“ – Gott sei Dank! Da kümmerte sich niemand, wie ein Kind solche schlimmen Erlebnisse verkraftete.
Am 8. Mai 1945 war endlich Kriegsende. Als die Amerikaner mit ihren riesigen Panzern mit dem weißen Stern kamen, verteilten sie Kaugummi an uns Kinder. (…) Um uns zu ergeben, hängten wir weiße Bettlaken aus den Fenstern.
(…)
Der Krieg hat mich und meine ganze Generation der Kriegskinder geprägt. Die Angst steckt mir noch heute in den Knochen!
Das war’s.“
Information zur Videoinstallation „Hildesheim: Blüte – Zerstörung – Wiederaufbau:
Erleben Sie noch bis zum 22. Juni die Videoinstallation zum Gedenken an 80 Jahre Kriegszerstörung Hildesheims mit Zeitzeugenberichten und umfangreichem, zum Teil erstveröffentlichtem Bild-, Ton- und Filmmaterial.
Fakten treffen auf Emotionen – so entsteht ein dichtes erzählerisches Szenario, das Hildesheims Geschichte von 1850 bis 1990 aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.
Dienstag bis Donnerstag:
stündlich von 11:15 Uhr – 16:15 Uhr
Freitag bis Sonntag:
stündlich von 10:15 Uhr – 16:15 Uhr
Die Teilnehmerzahl ist auf 30 Personen pro Vorführung begrenzt.
Eine Reservierung wird empfohlen.
Tickets und Zeitfenster können über den Online Shop des Museums gebucht werden.



