Erinnerungsarbeit ist keine starre Disziplin, sondern ein lebendiger Prozess. Anlässlich unserer Videoinstallation „Hildesheim: Blüte – Zerstörung – Wiederaufbau“ denkt unsere Direktorin Frau Dr. habil. Lara Weiss über die Wichtigkeit und Relevanz von Erinnerungskultur nach und darüber, wie aus Gedenken in die Zukunft gerichtetes Handeln entsteht.
Es gibt Städte, die ihre Geschichte wie eine zarte Patina über den Mauern tragen – als stille Zeugen längst vergangener Zeiten. Und es gibt Städte, die ihre Vergangenheit wie eine Narbe auf der Haut tragen – sichtbar, spürbar, mahnend und allgegenwärtig. Ich bin zwar noch recht neu in der Stadt, aber mein persönlicher Eindruck ist: Hildesheim ist eine solche Stadt.
Der 22. März 1945 hat sich unauslöschlich in das kollektive Gedächtnis Hildesheims gebrannt. Innerhalb weniger Minuten wurde eine der schönsten Fachwerkstädte Deutschlands dem Erdboden gleichgemacht. Ein architektonisches Juwel, das über Jahrhunderte hinweg erblühte, ging in Flammen auf und viele Menschen verloren ihr Leben. Doch die Zerstörung markierte nicht das Ende. Hildesheim erhob sich aus der Asche – mit der Kraft derer, die Erinnerung nicht als Bürde, sondern als Verpflichtung begreifen.
Erinnern heißt verstehen
Blüte, Zerstörung, Wiederaufbau – dieser Dreiklang ist mehr als eine historische Kategorisierung. Er ist ein Symbol für die Widerstandskraft einer Stadt, die sich ihrer Geschichte stellt. Und das nicht nur in der architektonischen Rekonstruktion zerstörter Gebäude, sondern vor allem in der Auseinandersetzung mit dem, was diese Zerstörung für die Menschen im Alltag bedeutete: Der Verlust eines urbanen Gefüges und die Trauer über die menschlichen Tragödien hinter den Trümmern.
Es geht nicht nur um den Verlust der alten Mitte und die Trauer um zerstörte Fachwerkarchitektur, der sog. Perle des Nordens, sondern es geht auch um menschliche Schicksale, um Judenverfolgung und um Zwangsarbeit.
Hildesheim verlor nicht nur seine berühmten Fachwerkhäuser – es verlor auch Menschen. Die Stadt verlor sie durch die Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten, und dann durch die Bomben der Alliierten. Es verlor Frauen, Männer und Kinder, deren Leben ausgelöscht wurden.
Herr Dr. Meyer hat in seiner Rede am diesjährigen Friedenstag in der Andreaskirche letzten Samstag diese Ambivalenz, einerseits den Nationalsozialismus zu verurteilen und den Angriff auf Hildesheim als eine Befreiung wahrzunehmen und andererseits, den Opfern des 22. März gedenken zu wollen, sehr eindringlich dargestellt.
Es ist wichtig, beides zu tun: Mahnen und Trauern.
Der Bundespräsident a. D. Christian Wulff hat in seiner Friedensrede in der Andreaskirche unter anderem Kurt Tucholsky zitiert, der gesagt hat: „Erfahrungen vererben sich nicht, man muss sie selbst machen“, und kritisch hinterfragt, was ist mit Erfahrungen, die wir auf keinen Fall noch einmal selbst machen möchten, wie der massiven Zerstörung, Krieg und Vertreibung? Wie erreichen wir auch jene, die vielleicht keinen direkten Bezug zu Hildesheim und seiner Geschichte haben?
Wie erinnern wir heute?
Zum 80-jährigen Gedenktag der Zerstörung Hildesheims ist die Frage zentraler denn je: Wie gedenken wir einer Vergangenheit, die immer weniger lebende Zeitzeugen kennt? Wie erreichen wir jene, die keinen direkten Bezug zu Hildesheim haben? Junge Menschen, die andere Geschichten kennen – manche kennen Vertreibung und Krieg, aber aus anderen Perspektiven? Wie verhindern wir, dass Erinnerung museal erstarrt, hinter Glasvitrinen konserviert, und in der Sprache akademischer Distanz in immer weitere Ferne rückt, während draußen neue Formen des Hasses erstarken?
Die neue Videoinstallation Hildesheim: Blüte – Zerstörung – Wiederaufbau geht genau diesen Fragen nach. Sie erzählt nicht abstrakt, nicht distanziert, sondern sehr emotional berührend durch die Augen derjenigen, die die Bombennacht erlebt haben. Die Erzählerfiguren Katharina Scheide und ihr Sohn Karl stehen stellvertretend für unzählige Hildesheimerinnen und Hildesheimer, die sahen, wie ihre Welt in Flammen aufging. Die erlebten, wie aus Geschichte Gegenwart wurde – und aus Ruinen die Zukunft.
Erinnerung braucht neue Wege
Erinnerungsarbeit ist keine starre Disziplin, sondern ein lebendiger Prozess. Wer heute durch Hildesheim geht, sieht nicht nur wiederaufgebaute Gebäude. Er sieht Rekonstruktionen, sieht Spuren der Vergangenheit, aber oft nicht mehr deren Bedeutung. Die Videoinstallation schlägt eine Brücke: Sie bringt Geschichte dorthin, wo sie verstanden werden kann – in den Dialog, in die Emotion, in die immersive Erfahrung.
Gedenken ist keine passive Haltung, es ist eine Handlung. Es reicht nicht, die Vergangenheit zu bewahren – wir müssen sie vermitteln, diskutieren, weitertragen und damit also aktiv gestalten. Das RPM ist kein Ort des Belehrens, sondern ein Raum des Dialogs. Wir möchten neue Wege finden, um Geschichte im Museum nicht nur zu dokumentieren, sondern auch erfahrbar zu machen.
Deshalb richtet sich diese Videoinstallation nicht primär an Historikerinnen und Historiker, sondern an Schulklassen, an Menschen mit und ohne Vorkenntnisse – für alle, die bereit sind, sich der Vergangenheit zu stellen, um die Zukunft aktiv gemeinsam zu gestalten.
Nie wieder ist jetzt
Nach 80 Jahren kann niemand mehr sagen: „Ich habe es nicht gewusst.“ Aber viele fragen sich: „Was hat das überhaupt mit mir zu tun?“ Die Antwort ist einfach: Alles. Denn wer sich der Vergangenheit verschließt, öffnet die Tür für eine Zukunft, die wir längst hinter uns lassen wollten.
Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung – es sind keine Relikte vergangener Zeiten, sondern brennend aktuelle Herausforderungen. Hildesheim hat sich immer wieder neu erfunden. Lassen wir nicht zu, dass Erinnerung zu einem musealen Artefakt verkommt. Lassen wir sie lebendig sein – als Mahnung, als Auftrag, als Verpflichtung. Interaktive Formate wie die neue Videoinstallation sind dabei der Schlüssel. Sie löst die klassische Trennung zwischen Betrachter und Exponat auf und verwandeln das RPM von einem Ort des reinen Bewahrens, den man ehrfürchtig durchschreitet, in einen Raum des Erlebens und Mitgestaltens. Im Kontext von Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau eröffnet die Videoinstallation innovative Möglichkeiten, um Erinnerungskultur dynamischer und inklusiver zu gestalten.
Und das ist heute wichtiger denn je: Gedenken bedeutet Verantwortung. Und Verantwortung bedeutet Handeln.
Deshalb ist die Botschaft der Videoinstallation klar: Nie wieder ist keine leere Formel. Nie wieder ist jetzt.

Informationen für Ihren Besuch:
Die Videoinstallation „Hildesheim: Blüte – Zerstörung – Wiederaufbau“ ist bis zum 22. Juni 2025 zu folgenden Zeiten im RPM zu erleben:
- Dienstag bis Donnerstag: stündlich von 11:15 Uhr – 16:15 Uhr
- Freitag bis Sonntag: stündlich von 10:15 Uhr – 16:15 Uhr
Die Teilnehmerzahl ist auf 30 Personen pro Vorführung begrenzt. Eine Reservierung wird empfohlen.
Tickets und Zeitfenster können ab sofort über den Online Shop des Museums gebucht werden.
Wir danken der RPM-Stiftung, der Klosterkammer Hannover, der Bürgerstiftung Hildesheim, der Friedrich-Weinhagen-Stiftung, der Heinrich-Dammann-Stiftung, der Hildesheimer Bildungsstiftung und dem Landkreis Hildesheim für die großzügige Förderung:


Unser herzlicher Dank gilt außerdem dem Stadtarchiv Hildesheim, dem Verlagsarchiv Gebrüder Gerstenberg und dem Archiv Kultur und Geschichte vom Berge e.V. für die freundliche Bereitstellung von Bild- und Filmmaterial.
Vielen Dank an die Digital Pioniere UG aus Hildesheim für die wunderbare Zusammenarbeit und großartige Umsetzung.